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Donnerstag, 26.04.2012

Sorge und Empörung über Timoschenko-Hungerstreik

Julia Timoschenko ist im Hungerstreik - und zieht damit kritische Aufmerksamkeit auf den EM-Gastgeber Ukraine (Foto: tymoshenko.ua)
Kiew. Die inhaftierte ukrainische Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko protestiert hungernd gegen «grobe Gewalt» ihrer Gefängniswärter. Die Eskalation des Falles verstärkt die Kritik am Co-Gastgeber der Fußball-EM.
Sechs Wochen vor der Fußball-Europameisterschaft in der Ukraine und Polen haben Berichte über eine Misshandlung der inhaftierten früheren ukrainischen Regierungschefin Julia Timoschenko international einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Ein Hungerstreik, mit dem die 51-Jährige Oppositionsführerin gegen ihre Haftbedingungen protestiert, verstärkt den politischen Druck auf die Regierung des EM-Co-Gastgeberlandes.

Timoschenko: Todesangst beim Abtransport


«Todesangst» habe Timoschenko beim erzwungenen Transport vom Gefängnis in eine Klinik ausgestanden, heißt es in einer Erklärung der Politikerin. Drei Beamte hätten sie in eine Decke gewickelt und ihr dabei in den Bauch geboxt. Nach vergeblichen Hilferufen sei sie ohnmächtig geworden.

Aus Protest gegen die «Justizwillkür» verweigert die Politikerin die Nahrungsaufnahme. Als «Lügen» bezeichnet dagegen die Strafvollzugsbehörde nach einer Überprüfung die Vorwürfe. International nimmt aber die Kritik am Umgang mit der 51-Jährigen zu.

Den Westen stört besonders, dass sich die Strafjustiz im zweitgrößten Flächenstaat Europas augenscheinlich nur politische Gegner von Präsident Viktor Janukowitsch vornimmt. Der Staatschef steht im Verdacht, Timoschenkos Partei vor der Parlamentswahl im Herbst ausschalten zu wollen. Janukowitsch dementiert dies vehement.

Überwachungsvideo aus der Zelle - oder Fälschung?


Am «Fall Timoschenko» scheiden sich immer wieder die Geister. Auch deutsche Politiker und Bürgerrechtler beklagen wiederholt, dass eine unabhängige Prüfung der beiderseitigen Vorwürfe kaum möglich ist.

Mit welch harten Bandagen mittlerweile gekämpft wird, zeigt ein nun aufgetauchtes Video, das völlig unscharf ist und Timoschenko in ihrer Zelle zeigen soll - scheinbar putzmunter statt «schwer krank», wie auch deutsche Ärzte den Zustand der Politikerin bezeichnen. Das Video sei eine «plumpe Fälschung», kritisiert Anwalt Wlassenko erzürnt. Die Gefängnisbehörde bezeichnete es als authentisch, will aber klären, wie es an die Öffentlichkeit kam.

Janukowitsch hat sich in die Klemme manövriert


Beobachter sehen Viktor Janukowitsch längst in der Zwickmühle, weil nicht nur der Westen, sondern auch der mächtige Nachbar Russland den Umgang mit Timoschenko kritisiert. Moskau nehme «mit Besorgnis» zur Kenntnis, dass sich der Zustand der Oppositionsführerin offenbar verschlechtert habe, teilt das russische Außenministerium mit.

Am Mittwoch bot Kiew der Bundesregierung an, Timoschenko erneut von deutschen Ärzten am Haftort in Charkow rund 450 Kilometer östlich von Kiew behandeln zu lassen. Die 51-Jährige war dort bereits von ausländischen Ärzten untersucht worden, dazu gehörten der Chef der Berliner Charité, Karl Max Einhäupl, und der Leiter der Orthopädie, Norbert Haas.

Seit einem halben Jahr klagt Timoschenko über starke Rückenschmerzen. Von einem Bandscheibenvorfall ist die Rede.

Charité-Behandlung möglicher Weg ins Exil


Experten sehen das Angebot als möglichen ersten Schritt zu einer Behandlung in Berlin, wie sie die Bundesregierung und die Charité anbieten. Spekuliert wird in Kiew, ob Timoschenko dann nicht mit einem Asyl-Antrag in Deutschland bleiben könnte. Ihr Mann Alexander lebt seit kurzem in Tschechien im politischen Exil.

Timoschenkos Mitstreiter weisen solche Gedankenspiele zurück: Die Politikerin wolle im Land bleiben und als Vorkämpferin für Demokratie wirken.

«Innenpolitisch geht es für Janukowitsch darum, sein Gesicht nicht zu verlieren. Aus diesem Grund kann er Timoschenko nicht einfach freilassen», sagte der Politologe Wladimir Fessenko vor kurzem. In Kiew werden erneut Gesetzesänderungen diskutiert, so dass die vermeintlichen Taten der ehemaligen Regierungschefin straffrei würden.

Ukrainer nehmen Timoschenkos Schicksal gelassen


In der breiten Bevölkerung der Ex-Sowjetrepublik stoßen die Vorgänge um Timoschenko kaum auf überwältigendes Interesse. Lange war die pro-westliche Politikerin und Ikone der demokratischen Orangenen Revolution von 2004 für viele ein Garant für einen EU-Kurs der Ukraine. Heute hören auf der Prachtstraße von Kiew, dem Kreschtschatik, wenige Passanten zu, wenn eine Timoschenko-Erklärung verlesen wird.

Noch im vergangenen Jahr hatten Proteste den Prozess wegen angeblichen Amtsmissbrauchs begleitet, in dem die Ex-Regierungschefin zu sieben Jahren Haft verurteilt worden war.

Zwar blockierten am Mittwoch mehrere Abgeordnete der Opposition aus Protest gegen den Umgang mit Timoschenko die Rednertribüne des Parlaments in Kiew. Und im westukrainischen Gebiet Lwiw (Lemberg) schlossen sich einige Mitglieder der Timoschenko-Partei dem Hungerstreik an. Die meisten Menschen hätten aber offenbar die Machtspiele der führenden Akteure satt, meinen Experten in Kiew.

Auch der Aufruf zum Boykott der Fußball-EM, wie er beispielsweise in Deutschland wegen des Umgangs der Behörden mit Timoschenko laut wurde, spielt in den Medien des Landes bisher keine Rolle.

(Andreas Stein und Wolfgang Jung, dpa)


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