Der Blogger Alexej Nawalny repräsentiert die "neue russische Protestschicht". (Foto: newsru.com)
Dienstag, 27.12.2011
Wer geht auf die Straße: die russische Mittelschicht
Moskau. Umfragen am Rande der Moskauer Großkundgebung vom 24. Dezember zeigen: Die russischen „Wutbürger“ gehören zumeist der Mittelschicht an. Genau jener Mittelschicht, die unter Putins Regierung groß geworden ist.
Früher haben die meisten russischen Oppositionspolitiker die bürgerliche Schicht nicht ernstgenommen, nun ist sie ihr größtes Klientel geworden. Büroangestellte, Geschäftsleute, Intelligenzler stellen den Löwenanteil bei den Kundgebungen für gerechte Wahlen auf Russlands Straßen.
Zu diesem Ergebnis kommen Umfragen der russischen Meinungsforschungsinstitute Lewada-Zentrum und WZIOM. Sie erheben keinen Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit, zeichnen aber ein charakteristisches Bild der aktuellen russischen Protestbewegung.
Das Lewada-Zentrum hat am Rande der Demo am 24. Dezember 791 Personen befragt: 60 Prozent davon sind 18-40 Jahre alt, 70 Prozent haben einen Uni-Abschluss, 25 Prozent sind Geschäftsleute, zwölf Prozent Studenten. 70 Prozent zählen sich zu den Liberalen, 24 Prozent zu den Linken.
Fast drei Viertel gaben als Motiv für ihre Teilnahme an der Demonstration „Empörung über die Wahlfälschungen“ und „Unzufriedenheit mit der Lage im Land“ an. Über 50 Prozent bemängeln, dass „die Staatsmacht ihre Meinung nicht berücksichtigt“, über 40 Prozent „sind enttäuscht von Medwedews Modernisierung“. WZIOM kommt zu vergleichbaren Zahlen.
Kreatives und intelligentes Moskau
Der führende Oppositionspolitiker Boris Nemzow freut sich über das veränderte Publikum auf der Straße: Es sei angenehm, nicht vor „Arbeitslosen, Gastarbeitern und Verarmten“ aufzutreten, sondern „das kreative, intelligente Moskau“ vor sich zu haben, sagt er gegenüber der „Nesawissimaja Gaseta“.
Das neue Gesicht des russischen Protestes scheint auch dem Kreml zu gefallen. So ist sich Wladimir Surkow, Vize-Leiter der Präsidenten-Administration, sicher: „Das ist der beste Teil der Gesellschaft!“ Sein Chef Sergej Iwanow lobt die Meinungsfreiheit, die auf den Demos zum Ausdruck kommt; Katastrophenschutz-Minister Sergej Schoigu erklärt den Protestierenden seine „volle Unterstützung“.
Versuch der Vereinnahmung
Nach Ansicht der russischen Presse unternimmt der Kreml mit diesem Lobgesang den Versuch, die Proteste zu instrumentalisieren und sich selbst zunutze zu machen. Laut „Nesawissimaja Gaseta“ „macht sich die Staatsmacht selbst ein Kompliment dafür, dass sie den Leuten erlaubt hat, ungestraft auf die Straße zu gehen“.
Der „Kommersant“ schreibt, die russische Staatsführung habe das zunächst im Internet anwachsende Protestpotential völlig außer Acht gelassen und damit die Chance der Einflussnahme verpasst. Die heute allseits beliebte Losung von der Putin-„Partei der Diebe und Gauner“ hatte der bekannte Blogger Alexej Nawalny erstmals im Internet in Umlauf gebracht.
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