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Günter Grass bei seiner Lesung an der Petersburger Staatsuniversität (Foto: ld/rufo) |
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Dienstag, 05.06.2007
Günter Grass: Die Erinnerung ist unzuverlässigSt. Petersburg. Der deutsche Nobelpreisträger Günter Grass hat an der Petersburger Uni aus seinem neuesten Buch Beim Häuten der Zwiebel vorgelesen und mit seinen Lesern über Geschichte und Literatur diskutiert.
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Wegen der großen Nachfrage wurde das zunächst in einem Raum der Philologischen Fakultät geplante Treffen in die große Aula der St. Petersburger Staatsuniversität verlegt. Doch auch dieser Saal war mit Russen und Deutschen überfüllt, die die Lesung der berühmten Schriftstellers erleben wollten.
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Günter Grass lag zuerst aus seiner Novelle Im Krebsgang über die Versenkung des deutschen Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff durch das sowjetische U-Boot S-13 unter dem Kommando des Kapitäns Alexander Marinesko. Dann folgte ein Ausschnitt aus seinem letzten autobiografischen Roman Beim Häuten der Zwiebel über seine Erlebnisse 1944, als er zu den Luftwaffenhelfern eingezogen wurde.
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Die Auswahl der Texte gefiel nicht allen im russischen Publikum. Ich finde es nicht korrekt, in einer Stadt, die im Krieg so gelitten hat, so erniedrigend über russische Kriegshelden zu sprechen, so die 25-Jährige Politologin Swetlana. Doch trotz solcher kritischer Äußerungen wurde der 79-jährige Nobelpreisträger mit ebenso begeistertem Beifall verabschiedet wie man ihn empfangen hatte.
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Nach der Lesung gab es Zeit für eine offene Diskussion, deren Verlauf hier dokumentiert wird:
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Frage: Wie würden Sie die deutsche Erinnerungskultur beschreiben? Gibt es Dinge, an die man sich absichtlich eher nicht erinnert?
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Grass: Die Erinnerung ist ein unzuverlässiges Instrument, sie neigt dazu, uns die Dinge schön zu reden. Deswegen ist die Erinnerungsarbeit ein Prozess, die immer aufs Neue geprüft werden muss. Beim Häuten der Zwiebel jage ich nicht nur der Erinnerungen nach, sondern versuche auch das, was ich erinnere, auf die Wahrheit abzuklopfen und zu fragen: Ist es die wirklich wahre Geschichte oder gibt es Varianten dazu? Und ich versuche auf diese Weise das Fragwürdige des Erinnerns des autobiografischen Schreibens deutlich zu machen.
Für mich persönlich war das Schreiben des Buches auch ein schmerzhafter Prozess. Meine Generation ist zur Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen. Ich war in dieser Ideologie gefangen. Und die Fragen, die ich mir beim Schreiben stellen musste, waren schmerzhafter Art.
Und wie überrascht war ich, als ich das Buch geschrieben habe und in der Folge so viele Leserbriefe zu mir ins Haus kamen! Das waren Briefe von Menschen meines Alters um die 80 Jahre und älter, aber auch von ganz jungen.
Bei den Briefen der alten Menschen gab es folgende Tendenz: Vielen Dank für Ihr Buch. Nachdem ich es gelesen hatte, war ich zum ersten Mal in der Lage, mit meinen Kindern über meine Erinnerungen an dem Krieg zu sprechen. Und die jüngeren Briefschreiber schrieben: Zum ersten Mal hat der Großvater oder die Großmutter mit uns über den Krieg gesprochen.
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Frage: Sie haben uns aus Ihren Büchern über den Krieg vorgelesen. Ihre Zeitgenossen neigen dazu zu sagen, dass sie nichts wussten. Aber wie man aus Ihrem Text Beim Häuten der Zwiebel verstehen kann, haben es viele doch gewusst. Was meinen Sie dazu?
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Grass: Man kann diesen Leuten auch glauben, das trifft auf viele zu. Wir wussten, dass es Konzentrationslager gab, aber was in der Konzentrationslagern geschah die Vernichtung von sechs Millionen Juden das war uns unbekannt. Überhaupt wurden die Verbrechen Deutschlands in Einzelheiten für meine Generation erst nach dem Krieg bekannt.
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Frage: Sie haben gesagt, dass Sie in der Ideologie des Nationalsozialismus gefangen waren. Was hat Ihrer Meinung nach diese Ideologie für die Menschen so attraktiv gemacht?
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Der Nationalsozialismus war insbesondere für die jungen Menschen attraktiv: Zelten, Wanderungen machen, gemeinsam singen. Ich glaube, Sie haben in der Sowjetunion bei den Jugendorganisationen auch erlebt, wie leicht junge Menschen für Ideen zu begeistern sind, auch für einseitigen und propagandistische Ideen. Meine Generation ist verführt worden mit diese Ideologie. Aber im nachhinein muss man sich Fragen stellen und das tue ich in meinen Büchern. Wie haben uns verführen lassen, wir haben nicht die kritischen Fragen gestellt, die notwendig wären, um diese Propaganda zu stürzen.
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Frage: Ihre berühmten Zeitgenossen, zum Beispiel Heinrich Böll, haben immer russische Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und Lew Kopylew unterstützt, trotz der Tatsache, dass die Regierung der BRD den Kurs der sogenannten Realpolitik folgte. Wie schätzen Sie die gegenwärtige Situation in Russland ein, was Menschenrechte und Pressefreiheit anbetrifft?
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Grass: 1990 gab es in vielen Ländern eine große Hoffnung, dass sich im Osten nach dem Zusammenbruch der sowjetischen Systems die Demokratie entwickeln würde, und die größte Hoffnung war mit Russland verbunden. Ich glaube, dass man zurecht kritisiert, dass zum Beispiel Zeitungen und Fernsehanstalten unter staatliche Kontrolle gebracht werden.
Es ist zwar noch nicht so weit, dass eine Zensur per Gesetz eingeführt ist, aber die Meinungsfreiheit wird eingeschränkt. Das, glaube ich, ist für ein Land wie Russland, das so eine Erfahrung mit Totalitarismus gemacht hat, mehr als gefährlich. Für jede demokratische Entwicklung, egal in welchem Land, ist die Meinungsfreiheit ja die Voraussetzung.
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Frage: In Russland werden heute die Schriftsteller Ihrer Generation kaum gelesen, weil sie durch die Ideologie eingeschränkt wurden, sich auch ästhetisch zähmten, so dass sie diese Unfreiheit schon so verinnerlichten und deshalb nicht mit voller Kraft schreiben konnten. Wie ist die Situation in Deutschland, wie sind die Verhältnisse zwischen der älteren und der jüngeren Generation der Schriftsteller?
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Nach der Lesung: Günter Grass gibt Autogramme - beobachtet vom Petersburger Goethe-Instututs-Chef Ralf Eppeneder (foto: ld/rufo) |
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Grass: Das ist natürlich bedauerlich, wenn die jüngere Generation in Russland die älteren Autoren nicht mehr zur Kenntnis nimmt. Vor zwei Jahren habe ich von Daniil Granin ein wunderbares Buch gelesen, Das Jahrhundert der Angst, worin es darum geht, wie die Angst zur Gehirnunterdrückung wird und die Menschen aus Angst heraus reagieren.
Es könnte für die jungen Menschen, die es heute lesen, lehrreich sein, so etwas zu erfahren. Die Gefahr ist nicht mehr so groß wie zu der Zeit der Sowjetunion, aber man kann die Erfahrungen verwerten. In Deutschland, so glaube ich, gibt es nach wie vor viele junge Menschen, die die Werke von Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder von mir lesen. So wie ich, meine Generation, die Autoren zur Kenntnis nahm, die vor uns geschrieben haben, auch die Autoren, die in Deutschland in die Emigration vertrieben wurden. Bertolt Brecht war für mich zum Beispiel sehr wichtig.
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Frage: In Deutschland ist eine neue Generation von Schriftstellern entstanden, die auf neue Weise über den Krieg, den sie nicht erlebt haben, schreiben. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?
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Grass: Für meine Generation, die im totalitären System aufgewachsen ist, war dieses Thema vorgeschrieben. Deswegen haben wir zwar aus der Gegenwart aus geschrieben, aber immer mit dem Rückblick auf das, was gewesen ist, was Vergangenheit geworden ist, und wovon man Zeuge war.
Bei den jüngeren Autoren sind natürlich andere Themen hervorgehoben. Nach dem Fall der Ideologien des 20. Jahrhundert Faschismus und Kommunismus , die sie schon nicht mehr erfahren haben, erleben sie jetzt den Kapitalismus als zuletzt übrig gebliebene Ideologie und auch den Prozess der Globalisierung.
Sie reagieren mit Recht darauf, dass auf Grund menschlicher Verhaltens es zur Klimaänderung gekommen ist, was voraussichtlich katastrophalen Folgen haben wird. Also wird das Thema des inneren Verkommens und der Katastrophen auch in die Literatur eingehen. Ich glaube nicht, dass man das Recht hat, aus meiner Generation heraus zu erwarten, dass die jüngere Generation sich den Themen zuwendet, die für mich nach wie vor lebenswichtig sind.
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Frage: Haben Sie im literarischen Sinne Nachfolger?
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Grass: Wie meine Art vom Schreiben andere Autoren beeinflusst hat? Meistens ist der Einfluss bei den ausländischen Autoren stärker, als bei den deutschen Autoren. Manche wie zum Beispiel Salman Rushdie oder John Irving beide englischsprachig haben sich ganz deutlich darauf berufen, dass sie von meiner Art des Schreibens in der Blechtrommel oder den Hundejahren in jungen Jahren beeinflusst worden sind.
Ich selber wurde zum Beispiel in meinen jungen Jahren von dem deutschsprachigen Autor Alfred Döblin sehr beeinflusst.
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(Anna Litvinenko/SPZ)
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